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Türkei: Richterinnen und Richter unter Druck

Betrifft JUSTIZ Heft 128 – Dezember 2016 (1)
Blogschokolade

In vier Wellen wurden in der Türkei bislang 3658 Richterinnen und Staatsanwälte entlassen. Viele von ihnen waren oder sind inhaftiert, wie zuletzt der Präsident der Richtervereinigung YARSAV, Murat Arslan oder Aydin Sefa Akay, ein Immunität genießender UN-Richter.

Zeitungen in deutscher Sprache berichten wenig über die aktuellen Entwicklungen, da bilden blogs und soziale Netzwerke eine wichtige Informationsquelle. Am umfangreichsten berichtet der Luzerner Bundesrichter Thomas Stadelmann in seinem „ts_justice›s blog“, der auch auf twitter (@ts_justice) unterwegs ist. Das blog erschöpft sich nicht in eigenen Posts, sondern wird ergänzt durch Dokumentationen, journalistische Beiträge oppositioneller türkischer Journalisten und Aufsätzen der mit Betrifft JUSTIZ befreundeten Richterzeitung „Justice – Justiz – Giustizia“.

Große Aufmerksamkeit hat der Beschluss des EGMR in der Sache Mercan ./. Türkei vom 8. November 2016 (56511/16) auf sich gezogen. Der Gerichtshof wies die Individualbeschwerde von Zeynep Mercan, einer 32 Jahre alten Richterin aus Girsun, mangels Rechtswegerschöpfung zurück. Sie war am 17. Juli 2016 vorläufig festgenommen worden, am darauf folgenden Tag wurde Untersuchungshaft angeordnet. Die Beschwerde hiergegen wurde am 8. August 2016 zurückgewiesen. Weiteren Rechtsschutz, insbesondere zum Verfassungsgericht, nahm sie nicht in Anspruch, da – so ihr Vortrag – auch zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet worden seien und das türkische Verfassungsgericht deren Entlassung bestätigt habe. Redakteurin Tanja Podolski hebt in ihrem Im LTO-Beitrag hervor, dass der EGMR das türkische Verfassungsgericht nicht aus seiner Rolle entlassen will: Die Richterin habe Schritte unterlassen, die es dem türkischen Verfassungsgericht ermöglicht hätten, seine „fundamentale Rolle“ bei der Sicherung des türkischen Rechts wahrzunehmen, so die Entscheidungsgründe. Thomas Stadelmann weist allerdings in seinem Blogeintrag vom 19.November 2016 darauf hin, dass sich zwischenzeitlich die Rolle des türkischen Verfassungsgerichts geändert habe und es sich zudem nicht befugt gesehen habe, Maßnahmen aufzuheben, die im Rahmen des Ausnahmezustands verhängt wurden. Nach Auffassung des EGMR habe es sich hier allerdings nicht um eine derartige Maßnahme gehandelt. Im verfassungsblog erläutert Ula˛s Karan, Assistenzprofessor für Verfassungsrecht an der Istanbul Bilgi Universität, dass nach einer Stellungnahme des Verfassungsgerichtspräsidenten seit dem Putschversuch 40.000 neue Individualbeschwerden beim türkischen Verfassungsgericht eingegangen seien – mehr als in den letzten zwei Jahren zusammen, wobei die Frage der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Maßnahmen auf Grundlage des Aunahmezustandsgesetzes Nr. 667 unter türkischen Juristinnen und Juristen umstritten sei. Er plädiert dafür, in der Entscheidung des EGMR keine regierungsfreundliche, sondern eine formale Entscheidung für den Subsidiaritätsgedanken zu sehen.

Frank Schreiber

Die URLs in der Reihenfolge der Zitate:

http://tsjustice.info/wordpress/category/turkey/

http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/egmr-az5651116-zuverlaessigkeit-gerichtsbarkeit-rechtsweg/

http://verfassungsblog.de/mercan-v-turkey-waiting-for-the-last-word-of-the-turkish-constitutional-court/

(1) Quelle: http://betrifftjustiz.de/?page_id=981 (Zweitpublikation mit Zustimmung der Redaktion von Betrifft JUSTIZ)

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"Türkei: Richterinnen und Richter unter Druck" by @ts_justice

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