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Das große Aufräumen des Staates unter Notstandsregeln

Das große Aufräumen des Staates unter Notstandsregeln
Die Notverordnungen der türkischen Regierung enthalten massenhafte Verstöße gegen die Verfassung und Grundrechte

Autorin Öykü Didem Aydın[1],[2],[3]

I. Einführung

Am 15.07.2016 fand in der Türkei ein Putschversuch statt, der zügig niedergeschlagen wurde. Am 20.07.2016 wurde für einen Zeitraum von drei Monaten ein verfassungsrechtlicher Notstand erklärt. Es ist noch offen, wie lange er dauern soll. Er wurde bereits um drei Monate verlängert. So merkwürdig es auch aussehen mag, die Regierung will den Plan für die Verfassungsänderung[4] zur Einführung des Präsidialregierungssystems gerade während des Notstands vorantreiben, was unter normalen Umständen auf heftige Opposition durch die Hälfte der Bevölkerung stoßen würde.

Vorausgeschickt: Jeder gewalttätige Versuch einer Militärjunta, eine gewählte Regierung zu stürzen, muss mit allen Mitteln unter Beachtung von internationalen Standards des »humanitären« Rechts bekämpft, eindeutig verurteilt und verabscheut werden. Tatsächlich gingen Tausende von Zivilisten in der Nacht zum 16.07.2016 auf die Straße, wobei mehr als 240 Menschen bei Auseinandersetzungen ihr Leben verloren.

Die Autorin ist sich auch bewusst, dass es eine Organisation gibt, die von Fethullah Gülen geführt wird. Diese hat versucht, mit heimtückischen Mitteln in Bereiche der öffentlichen Verwaltung einschließlich des Militärs, der Polizei, der Justiz und des Bildungssystems einzudringen. Das erinnert teilweise an Scientology, bei der zeitweise selbst in Europa festgestellt wurde, dass sie zur Abwehr ihrer inneren und äußeren Gegner auch geheimdienstliche Methoden anwende, im Grenzbereich zur Illegalität operiere und gegebenenfalls auch nicht vor kriminellen Aktionen zurückschrecke. Die sogenannte FETÖ ging vermutlich unter dem Deckmantel der »gemäßigten Interpretation des Islams« weit darüber hinaus und vereinigte große Macht innerhalb des Staates auf sich. Ihre Wurzeln liegen in den günstigen politischen Umständen, die nach dem Militärputsch von 1980 anti-säkularen Strömungen großen Raum boten.

Das Justizsystem war vor dem Putschversuch Juli 2016 äußerst verletzlich geworden, und zwar mit der Inszenierung der hochkarätigen Strafverfahren »Ergenekon«, »Balyoz« und anderen, in denen die Opfer zu Unrecht zu außerordentlich langen Haftstrafen verurteilt wurden[5]. Dass die Anschuldigungen auf mangelhaften, grob rechtswidrigen und fabrizierten Beweisen basierten, stellte sich erst vor kurzem heraus. Andererseits war jedoch auch offensichtlich, dass die aktuelle Regierung in vieler Hinsicht bis 2014 in enger Beziehung mit dieser Organisation stand und man eng zusammen arbeitete.[6]

Nach der Niederschlagung eines solchen Putsches ist es Aufgabe der Regierung, die Situation so rasch wie möglich zu normalisieren und der Verfassung sowie den verfassungsrechtlichen Garantien für Menschenrechte und Grundfreiheiten treu zubleiben – weil auch unter einem Notstand jeder Menschenrechte und Grundfreiheiten hat.

Am 23.07.2016 erließ der Ministerrat unter dem Vorsitz des Präsidenten die erste Rechtsverordnung, Nr. 667, über Maßnahmen im Notstand. Zahlreiche Organisationen und Institutionen wurden durch die erste Rechtsverordnung geschlossen, welche in angehängten Listen deren Namen enthielt. Andere Verordnungen folgten der ersten: Nr. 668, 669, 670, 671, 672, 673, 674, 675 und 676. Neue Maßnahmen werden noch geplant. Diese Listen müssen wohl auf das Jahr 2014 zurückgeführt werden, als die Auseinandersetzung zwischen FETÖ-Verbündeten und der Regierung begann.

 

II. Verfassungsrechtliche Grundlage

Ergeben sich ernsthafte Anzeichen für sich ausbreitende Gewalthandlungen, die auf eine Aufhebung der durch die Verfassung begründeten freiheitlichen demokratischen Ordnung oder der Grundrechte und -freiheiten gerichtet sind, oder wird die öffentliche Ordnung ernsthaft gestört, so kann der Ministerrat nach Einholung der Stellungnahme des Nationalen Sicherheitsrates in Teilen des Landes oder im ganzen Land für nicht mehr als sechs Monate den Notstand ausrufen (Art. 119, 120 der Verfassung).

Art. 121 der Verfassung sieht vor: »Wird gemäß Artikel 119 und 120 der Verfassung die Ausrufung des Notstandes beschlossen, so wird dieser Beschluss im Amtsblatt verkündet und sofort der Großen Nationalversammlung der Türkei zur Zustimmung unterbreitet. … Die Nationalversammlung kann die Dauer des Notstandes ändern, sie auf Verlangen des Ministerrats für jeweils nicht mehr als vier Monate verlängern oder den Notstand aufheben.
Die für die gemäß Artikel 119 ausgerufenen Fälle des Notstandes auf die Staatsbürger zu übertragenden Verpflichtungen … die Art und Weise der Beschränkung oder Aussetzung der Grundrechte und -freiheiten im Sinne des Artikels 15 der Verfassung, die Art und Weise der Ergreifung der durch den Notstandsfall erforderten Maßnahmen, die Art der den Angehörigen des öffentlichen Dienstes zuzuweisenden Kompetenzen, die Art der Änderungen im Status der Bediensteten sowie die Verfahren der Notstandsverwaltung werden durch Notstandsgesetz geregelt.
Während der Dauer des Notstandes kann der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat… Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Diese Rechtsverordnungen werden im Amtsblatt verkündet und am selben Tag der Großen Nationalversammlung der Türkei zur Zustimmung unterbreitet;…«

In Bezug auf die Schranken der Grundrechte sieht Art. 15 der Verfassung vor, dass (u. a.) im Fall des Notstandes unter der Voraussetzung, dass die sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen nicht verletzt werden, im erforderlichen Maße der Gebrauch der Grundrechte und -freiheiten teilweise oder vollständig ausgesetzt werden kann oder Maßnahmen getroffen werden können, die den in der Verfassung vorgesehenen Garantien entgegenstehen. Auch in den in Absatz 1 genannten Situationen darf, abgesehen von Todesfällen nach Kriegsrecht, das Recht auf Leben und die Einheit der materiellen und ideellen Existenz nicht angetastet, niemand zur Offenbarung seiner Religion, seines Gewissens, seiner Meinung und seiner Ansichten gezwungen oder ihm aus diesen ein Schuldvorwurf gemacht werden, dürfen Straftatbestände und Strafen keine Rückwirkung entfalten, darf bis zur Feststellung seiner Schuld durch Gerichtsurteil niemand als schuldig gelten.

Notstandsverordnungen wirken zwar wie Charakteristika von Notständen in der Türkei, die früher, insbesondere in den 90’er Jahren, auf das Gebiet des Südosten beschränkt waren, weil sie erlauben, dass die Regierung ohne Kontrolle des Verfassungsgerichts weitgehende Maßnahmen erlassen darf: (»…Mit der Behauptung der formellen und materiellen Verfassungswidrigkeit von in Fällen des Notstandes, der Ausnahmezustandsverwaltung und des Krieges erlassenen Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft kann vor dem Verfassungsgericht keine Klage erhoben werden«, Art. 148 der Verfassung).

Wenn wir uns die Vorschriften der Verfassung genau anschauen, können wir jedoch diesbezüglich die folgenden Schlüsse ziehen:

  1. Der Notstand ist eine vorübergehende Periode und steht unter der parlamentarischen Kontrolle.
  2. Alle Maßnahmen müssen durch den Notstand »erfordert« sein.
  3. In einem Notstand dürfen keinesfalls die sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen verletzt werden, also auch das System der EMRK bleibt unberührt.
  4. Ein organisches Notstandsgesetz regelt den Rahmen dieser Maßnahmen im Voraus.[7]
  5. Die Verfassung macht einen Unterschied zwischen Notstand und Ausnahmezustand. Es dürfen keine von den für einen Ausnahmezustand vorgesehenen Maßnahmen während eines Notstandes getroffen werden. Tatsächlich besteht in der Türkei auch ein Gesetz, das den Ausnahmezustand regelt.
  6. Auch in einem Notstand darf das Recht der Person auf Leben und die Einheit ihrer materiellen und ideellen Existenz nicht angetastet, darf niemand zur Offenbarung seiner Religion, seines Gewissens, seiner Meinung und seiner Ansichten gezwungen oder ihm aus diesen ein Schuldvorwurf gemacht werden, dürfen Straftatbestände und Strafen keine Rückwirkung entfalten und darf niemand bis zur Feststellung seiner Schuld durch Gerichtsurteil als schuldig gelten.
  7. Notstandsmaßnahmen dürfen weder gegen die Verfassung noch das Gesetz verstoßen, das zu treffende Maßnahmen in einem Notstand vorsieht.
  8. Ferner darf von Art. 12 und 13 der türkischen Verfassung auch im Notfallstaat nicht abgewichen werden – eine Tatsache, die von zahlreichen, zum Zwecke der Unterdrückung der Opposition agierenden politischen Kreisen in der Türkei übersehen wird:

»Artikel 12: Jeder besitzt inhärente Grundrechte und Freiheiten, die unverletzlich und unveräußerlich sind… Artikel 13 (in der Fassung vom 03.10. 2001, Gesetz Nr. 4709): Die Grundrechte und Grundfreiheiten können nur durch das Gesetz und in Übereinstimmung mit den in den entsprechenden Artikeln der Verfassung erwähnten Gründen eingeschränkt werden, ohne ihr Wesen zu verletzen.

 Diese Beschränkungen dürfen nicht dem Wortlaut und Geist der Verfassung und den Anforderungen der demokratischen Ordnung der Gesellschaft und der säkularen Republik und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widersprechen.

 

III. Notstandsverordnungen mit Gesetzeskraft

Der Gesamtinhalt dieser Notstandsverordnungen kann in diesem kurzen Artikel zwar nicht dargestellt werden, es ist aber darauf hinzuweisen, dass diese zahlreiche Bestimmungen enthalten, welche

  1. die Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Erfordernisse des Notstands hinausgehend beschränken,
  2. öffentliche Verwaltung einschließlich der gesamten Struktur der militärischen Macht in vielerlei Hinsicht neu ordnen,
  3. ein wirtschaftliches System der Dringlichkeit, der Einziehungsermächtigungen und der Beschlagnahme von persönlichem und institutionellem Eigentum bereitstellen, was wenn überhaupt wenig Raum für Abhilfe und Verfahrensgarantien für die Menschen lässt, die sich selbst für unschuldig am Geschehen halten.

Die erste Rechtverordnung[8] sieht vor, dass Organisationen, die in den Anhängen aufgeführt sind, geschlossen werden, weil sie mit der Fethullah-Terrororganisation (FETÖ/Parallele Staatsstruktur, PDY) zusammenhängen oder in Verbindung stehen sollen. Sie geht jedoch über FETÖ hinaus und fügt eine weitere Formulierung hinzu: »Mitgliedschaft in, Zugehörigkeit zu, Beteiligung an Terrorismusverbänden sowie Strukturen, Formationen und Gruppierungen, welche durch den Nationalen Sicherheitsrat so eingestuft wurden«. Die Einstufung durch den Rat, der nur ein Verwaltungsorgan ist, darf also zeitlich nach Erlass dieser Verordnung stattfinden, obwohl sie den Organisationen und Personen bestimmte Sanktionen auferlegt. Dies macht die Verordnung extrem vage, da jede Organisation oder Person leicht mit Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit in Verbindung gebracht werden kann.

Bis jetzt wurden nahezu ein Drittel der RichterInnen und StaatsanwältInnen auf der Grundlage der oben erwähnten Bestimmungen endgültig entlassen. Von Zeit zu Zeit wird eine sehr begrenzte Anzahl der vorübergehend Entlassenen von dem Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte zurück ins Amt gebracht.
Auf der anderen Seite wurden RichterInnen und StaatsanwältInnen (einschließlich des Präsidenten der Vereinigung für die Union der Richter und Staatsanwälte, Herrn Murat Arslan) durch spätere Verordnungen mit eigenen Personen-Listen entlassen. Es ist eine merkwürdige Situation, da die oben erwähnte erste Verordnung (Nr. 667) zwar rechtswidrig und summarisch, aber doch ein Disziplinarverfahren vorgesehen hatte. In dieser Hinsicht scheinen die späteren Verordnungen die durch die erste Verordnung vorgesehenen Verfahren aufgehoben zu haben. Bei den verfassungsrechtlich stärkere Garantien genießenden RichterInnen und StaatsanwältInnen von Oberen Gerichten wie Yargıtay, Danıs˛tay u. ä. wird ein Umweg missbraucht: Sie werden zunächst zu »einfachen« Berichterstattenden Richtern gemacht, was sie dem HSYK, dem Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte im Rahmen summarischer Massenverfahren als Betroffene »zur Verfügung stellt«. Dies nicht erst seit dem 15.07.2016, sondern schon seit einer Weile davor. Es ist offensichtlich, dass die Suspendierungen oder Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten nicht auf einem objektiven, abstrakten und allgemeinen Gesetz oder Dekret basieren.[9] Die meisten Bestimmungen der nach dem 15. Juli erlassenen Notstandsverordnungen verletzen die Verfassung der Türkei und die internationalen Konventionen.[10]

 

IV. Erkundigung über Lebensverhältnisse

Stellen Sie sich vor, Sie sind Richter/in und kein Mitglied einer Organisation, die die gewählte Regierung stürzen will. Einen Tag nach dem Putschversuch gehen Sie in Ihr Arbeitszimmer am Gericht und finden eine Benachrichtigung über die vorübergehende Entlassung auf Ihrem Schreibtisch. Später werden Ihnen die folgenden Fragen übergeben, die Ihre »Verbindung« im Rahmen der gegen Sie eingeleiteten Disziplinarmaßnahmen offenlegen sollen. Später müssen Sie dieselben Fragen auch im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens beantworten.

  1. Haben Sie Kontakte mit, Mitgliedschaft in, Zugehörigkeit oder Verbindung zu einer Person oder Institution im Zusammenhang mit der FETÖ/der Parallelen Staatsstruktur/PDY? Bitte erklären Sie.
  2. Bitte geben Sie an, wo und wann Sie Mittelschule, Gymnasium, Ausbildung, Master- und Doktorat gemacht haben und welche Institutionen Sie dabei besucht hatten. Bitte geben Sie Information über den Standort der Wohnheime, in denen Sie während dieser Zeiträume gewohnt haben.
  3. Haben Sie selbst, Ihr Ehepartner, Ihre Kinder oder Personen, für die Sie verantwortlich sind, ein Konto in der Bank Asya? Wenn ja, erklären Sie die Gründe dafür, und erklären Sie die Bewegungen bei diesen Konten, und zwar ab 01.01.2014.[11]
  4. Haben Sie Kinder, welche eine der im Rahmen des Dekrets Nr. 667 im Zusammenhang mit der FETÖ/PDY genannten Bildungseinrichtungen besuchen oder besucht haben? Wenn ja, geben Sie bitte die Eintritts- und Austrittsdaten an. Bitte erklären Sie, warum Sie diese Bildungseinrichtungen bevorzugt haben.[12]
  5. Haben Sie eines der verschlüsselten Kommunikationsprogramme wie Bylock, Eagle und Tango auf Ihrem Handy, Tablet oder Computer, auf dem Handy, Tablet oder Computer Ihres Ehepartners oder auf dem Handy, Tablet oder dem Computer Ihrer Kinder heruntergeladen und/oder verwendet? Was war Ihr Ziel dabei, und warum haben Sie diese heruntergeladen oder verwendet? Erklären Sie, mit wem Sie mittels dieser Programme kommuniziert haben.
  6. Haben Sie über WhatsApp, Twitter oder Social-Networking-Konten wie Facebook bei Ihnen selbst oder bei Ihrem Ehepartner oder Ihren Kindern gegen oder für FETÖ/PDY etwas geteilt? Haben Sie Mitteilungen von Personen, die über Konten diese Art von Nachrichten verbreiteten, mit anderen Personen geteilt? Bitte erklären Sie sich dazu. Geben Sie eine Erklärung über Twitter- und Facebook-Konten, die Sie auf diese Weise verwenden.
  7. Haben Sie selbst, Ihre Ehepartner und Ihre Kinder Zeitschriften und ähnliche FETÖ/PDY-Publikationen, die in die Rechtsverordnung Nr. 668 aufgenommen wurden, abonniert? Wenn ja, erläutern Sie den Grund für die Abonnements- und Stornierungstermine. Diese Fragen gehen weit über die Fragen hinaus, die in einem Disziplinarverfahren oder einer strafrechtlichen Untersuchung gestellt werden können.

 

V. Untersuchungshaftbedingungen

Heute sind 3.392 (Tendenz steigend!) Richter und Staatsanwälte in der Türkei in Haft. Die Bemühungen um Beobachtung der Verfahren sollten sowohl von allen türkischen, europäischen und internationalen Organisationen im Bereich der Justiz als auch von Initiativen, die für Menschenrechte und Grundfreiheiten von Richtern und Staatsanwälten sensibel sind, strukturiert und intensiviert werden. Derzeit liegen keine detaillierten Informationen über die Vorwürfe in den Akten, die Haftbedingungen und das Verfahren vor – einschließlich der Identität der Verhafteten, welche Fälle sie bearbeitet haben und in welchen Gerichten sie tätig waren.

 

Ein Richter, der für fünf Tage in einer Basketballhalle in Diyarbakır mit etwa 150 Richtern, Staatsanwälten, Akademikern, Beamten und ähnlichen Personen festgehalten wurde, berichtete, dass er wegen Mitgliedschaft in der FETÖ/ PDY-Organisation verhaftet worden sei. Die Halle sei überfüllt und (im August) zu heiß gewesen, und sie hätten nur eine sehr dünne Schlafmatte bekommen. Er berichtete, dass manche seit mehr als 20 Tagen in Haft waren, ohne dem zuständigen Richter vorgeführt worden zu sein. Man habe ihnen nicht einmal eine Tasse Kaffee oder Tee gegeben, und sie hätten erst dann Obst konsumieren dürfen, als sie gegen die Mahlzeit aus Dosen ohne Vitamine heftig protestiert hätten. Viele hätten ihre notwendigen Medikamente nicht mehr bekommen (was teilweise auch im Moment der Fall ist). Von den Rängen schauten Polizisten auf den mit den Festgenommenen überfüllten Basketballplatz und spielten populäre Lieder. Die Szene sehe aus wie ein Fragment aus einem Quentin-Tarantino-Film. Die Frau eines Richters erklärt, dass ihre Anträge von den Gefängnisbehörden nicht bearbeitet worden seien, dass ihre Besuche von den Behörden behindert worden seien (Besuche sind erst nach Aufnahme in die Untersuchungshaft möglich) und dass ihr Ehemann derzeit seit drei Monaten in einer Einzelzelle isoliert gehalten werde. Schwierigkeiten bestehen auch bei Unterbringung der Häftlinge weit entfernt von den Städten, so dass sie wenig Kontakt zu der Umgebung haben können, was die Vorbereitungen der Verteidigung extrem erschwert. Unmittelbar nach dem Putschversuch waren die Haftbedingungen extrem ungünstig. Wir wissen, dass manche Familien ihre Angehörigen erst 55 Tage nach der Festnahme sehen konnten. Bei manchen Verhafteten bleibt das Licht im Gefängnis immer an. Die Chronik der Haftbedingungen braucht einen anderen, speziellen Bericht.

 

VI. Panikstaat

Ein Blick in den Text der Verordnungen gibt eine Idee von der alarmierenden Situation, denn alle Verordnungen sehen Maßnahmen vor, die weit über die Erfordernisse der Situation hinausgehen, sogar die Übernahme der gesetzgebenden Funktion des Staates durch den Ministerrat bedeuten. Sie bringen Konsequenzen mit sich, die über die Zeit des Notstands hinausgehen und de facto »Aufhebung« bedeuten, soweit sie auf Gruppen von Personen und juristischen Personen summarisch angewandt werden. Nicht nur Rechtmäßigkeitskriterien, sondern die Kriterien für Kompetenz sind nicht erfüllt. Nach und nach sieht man, dass die Regierung einige Vorschriften dieser falschen, grob nachlässig geplanten und formulierten Maßnahmen aufhebt, so dass der Eindruck entsteht, dass wir unter einem »Panik-Staat« statt »Rechtsstaat« leben. Siehe die folgende Bestimmung des ersten Dekrets, die sich in den meisten der folgenden Dekrete wiederholt:

»Verantwortung ARTIKEL 9 – (1) Es besteht keine Rechts-, Verwaltungs-, finanzielle und strafrechtliche Haftung für Personen, die Entscheidungen treffen und Aufgaben im Rahmen dieser Verordnung im Rahmen ihrer Aufgaben wahrnehmen.«

Das Ziel der Maßnahmen gegen ausgewählte Individuen und Organisationen scheint in zahlreichen Fällen nicht gerechtfertigt zu sein, und die Maßnahmen sind in einer demokratischen Gesellschaft nicht als notwendig anzusehen, nicht der wahrgenommenen aktuellen Gefahr angemessen, die diese Individuen und Organisationen darstellen sollen, und zum großen Teil willkürlich. Demokratische Gegner der Regierung von den Mitgliedern einer terroristischen Organisation zu unterscheiden, ist Aufgabe der Regierung, weil niemand dafür Beweise vorbringen kann, dass er kein Mitglied einer solchen Organisation ist. Im Gegenteil sind Umkehrung der Beweislast und vage Anschuldigungen in einem Klima vorherrschend, in dem keine Unterscheidungskriterien vorgesehen sind und eine große Fishing Expediton – Ermittlung ins Blaue hinein – geführt wird.

Wer soll in einem Staat, in dem nahezu 4000 Richter und Staatsanwälte verhaftet worden sind, diese Prozesse nach den Prinzipien des Rechtsstaats ohne Angst um eigene Stellung führen? Wer soll die Positionen, die »frei« wurden, füllen, um sicherzustellen, dass die Betroffenen fair, unparteiisch und unabhängig behandelt werden? Der Wortlaut einer Bestimmung des zweiten Dekrets, Nr. 669 gibt eine Idee dazu:

»… (2) [Rechtsreferendare[13]] können vom Höheren Rat der Richter und Staatsanwälte unabhängig von der Zeit, die sie als Referendar verbracht haben, ab dem Datum des Inkrafttretens dieses Dekrets auf Vorschlag des Justizministers als Richter und Staatsanwalt ernannt werden.«

 

VII. Massenhafte Verstöße gegen die Verfassung, Grundrechte, strafprozessuale Rechte, Disziplinarverfahren sowie Vollstreckungsrechte

Die Vereinigung für AnwältInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen ohne Grenzen in der Türkei[14] weist auf zahlreiche Unrechtmäßigkeiten hin, deren Zusammenhang ein »Systemunrecht«[15] ausmachen könnte. Eine Reihe davon sind tabellarisch wie folgt zusammenzufassen, weil sie eingehend nicht dargestellt werden können[16]:

  1. Verletzungen von verfassungsrechtlichen Garantien: Massenverfassungswidrigkeit
    1. Die Notstandsverordnungen mit Gesetzeskraft beinhalten Regelungen, die über die Notwendigkeiten des Notstands inhaltlich und zeitlich hinausgehen
    2. Keine zeitliche Grenze für die Verlängerung des Ausnahmezustandes
    3. Verletzungen von Grundrechten, grobe Verstöße insbesondere gegen das Prinzip der Unschuldsvermutung, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Recht auf die persönliche Unversehrtheit, die Bestimmtheit des Gesetzes, das Recht auf Rechtliches Gehör, Prinzipien der richterlichen Anordnung oder Kontrolle bei durch Verfassung mit dieser besonderen Garantie gestatteten Rechten,
    4. den Verfassungsstatus von Richtern und Staatsanwälten in Verbindung mit dem Rechtsstaat und dem Prinzip der Gewaltenteilung, die akademischen Freiheiten, die Meinungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Prinzip der persönlichen Verantwortung (Problem der kollektiven Verantwortung von »Familien«),
    5. zu lange Dauer der Festnahme
    6. konventionswidrige Maßnahmen trotz der Derogation nach Art. 15 EMRK.
  1. Verletzungen der strafprozessualen Rechte
    1. Beweisaufnahme durch Massen-Kronzeugen, problematische und weit über ihre Schranken hinausgehende Kronzeugenregelung, vage Aussagen durch Kronzeugen, Glaubwürdigkeitsfragen,
    2. Verletzung des allgemeinen Beschlagnahme- und Sicherstellungsrechts,
    3. die EMRK wird bei den Haftbefehlen schablonenhaft ignoriert,
    4. unangemessene und weit über die Notwendigkeiten hinausgehende Beschränkung von Verteidigungsrechten und Einwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren einschließlich der Folgen einer Missachtung dieser Rechte,
    5. massen- und schablonenhafte Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts,
    6. Verletzungen von strafprozessualen Befugnissen von Anwälten,
    7. massen- und schablonenhafte Einschränkungen des Besichtigungsrechts sowie Auskunftsrechts von VerteidigerInnen und Beschuldigten[17],
    8. irrationale und schablonenhaft vorgefertigte Standard-Ausführungen ohne Bezug zur Sache oder zu den einzelnen Voraussetzungen entsprechender Vorschriften ohne Konkretisierung,
    9. Verletzung von Garantien zu Aussageund Selbstbelastungsfreiheit in StPO, GG und EMRK und ihre (Un-)Vereinbarkeit mit Druck auf Aussage,
    10. Beschränkung des Zeugenbefragungsbzw. Konfrontationsrecht des Beschuldigten in StPO, GG und EMRK,
    11. kein Schutz der Verfahrensbeteiligten vor der Öffentlichen Meinung im Strafverfahren,
    12. Verletzungen im Bereich des Rechtes über Durchsuchung und Beschlagnahme von Akten und Datenträgern – der schmale Grat zwischen »Zufallsfund« und »fishing expedition«,
    13. Einschränkung der Reichweite von Verwertungsverboten für rechtswidrig erlangte Beweise nach StPO, GG und EMRK,
    14. Unterstellung von schwerem Verdacht bei allen Angeschuldigten,
    15. keine Einzelfallprüfung bei Haftanordnung,
    16. generelle Unterstellung von Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr bei allen,
    17. klischee- und schablonenhafte Haftbefehle,
    18. Missachtung des Durchsuchungsrechts, der Regelungen über Sicherstellung, der Beschlagnahme von Gegenständen zu Beweiszwecken,
    19. oberflächliche Haftprüfung,
    20. keine mündliche Verhandlung bei der Haftprüfung,
    21. generalisierte Formulierungen für alle Fälle bei Haftprüfung, Wiederholung von früheren Formulierungen für aufeinander folgende Prüfungen,
    22. Rechtswidrigkeiten bei der Vernehmung von Beschuldigten.
  1. Verletzungen der strafprozessualen Rechte der Inhaftierten
    1. Verletzungen der Strafvollstreckungsrechte für Personen in Untersuchungshaft,
    2. keine Zustellung von Entscheiden durch Vollstreckungsrichter,
    3. rechtswidrige Isolierungen,
    4. gesetzeswidrige Gleichsetzung von Haftbedingungen verschiedener Verfahrensstadien (z.B. werden die Bedingungen von Untersuchungshaft mit den Bedingungen der Strafhaft gleichgesetzt),
    5. rechtswidrige Einschränkungen von Informationsrechten von Inhaftierten,
    6. extrem eng ausgelegte Besuchsrechte,
    7. keine einheitliche Anwendung der Richtlinien durch Vollstreckungsbeamte (Willkür),
    8. Videoaufnahme des Gespräches zwischen Anwälten und Mandanten,
    9. extreme Behinderungen beim Dokumentenaustausch zwischen Anwälten und deren Mandanten.
  1. Massenhafte Verletzung der disziplinarrechtlichen Verfahrensgarantien für Beamte
  2. Eine Reihe von verfassungswidrigen zivilrechtlichen (insbesondere eigentumsrechtlichen) Bestimmungen und Maßnahmen

Die Auflistung ist zwar nicht komplett, gibt jedoch eine Vorstellung von der sehr alarmierenden Situation.[18] Kostet Gerechtigkeit die Legislative, Exekutive und Judikative zu viel? Dann ist es »Happy Hour« für Grundrechte, schnell und verkürzt serviert nur noch durch die Exekutive!

 

 

[1] Assoc. Prof. Dr. Öykü Didem Aydın ist Mitglied der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) des Europarates, Rechtsanwältin und Präsidentin der Vereinigung der Anwälte und Menschenrechtsverteidiger ohne Grenzen in der Türkei.

[2] Quelle / Original: Betrifft JUSTIZ Nr. 128 / Dezember 2016 http://betrifftjustiz.de/wp-content/uploads//texte/frame.php?ID=BJ%20128_Aydin.pdf (Zweitpublikation mit Einverständnis der Redaktion von Betrifft JUSTIZ)

[3] http://www.venice.coe.int/WebForms/pages/? p=cv_3563 See also at http://www.xn--snrtanmayanavukatlar-ibdbe.net/english/

[4] http://www.venice.coe.int/WebForms/pages/? p=cv_3563 See also at http://www.xn--snrtanmayanavukatlar-ibdbe.net/english/

[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Ergenekon_trials, https://de.wikipedia.org/wiki/Ergenekon

[6] Jedoch werden nicht die Zusammenarbeiter, sondern deren heftige Kritiker verfolgt. Siehe am Beispiel von YARSAV: »Case of YARSAV«, in: http://tsjustice.info/wordpress/2016/11/14/caseyarsav-s-www-al-monitor-com/

[7] Das organische Notstandsgesetz aus dem Jahr 1983.

[8] Öykü Didem Aydın, »The Rule of Law and The Way We Are in the Aftermath of 15th of July: A Report on the Constitutional Situation in: https: //drive.google.com/file/d/0B4COQVo6NbaUenJLOVNtTmsyQ2M/view Unter: http://tsjustice.info/wordpress/2016/09/ 04/rule-law-way-aftermath-15th-july/

[9] Eingehend: Öykü Didem Aydın, https://drive. google.com/file/d/0B4COQVo6NbaUTW0yTXR- 4b1dWeVU/view

[10] Eingehend: http://www.xn--snrtanmayanavukatlar-ibdbe.net/emergence-state-turkey/

[11] Die Operationslizenz dieser Bank wurde erst am 22.07.2016 aufgehoben.

[12] All diese Institutionen operierten bis zum Erlass der entsprechenden Notstandsverordnung unter der Aufsicht des Bildungsministeriums.

[13] Zusammenfassung durch Autorin.

[14] http://www.sınırtanımayanavukatlar.net/english/ Eine aus 10 AnwältInnen bestehende Gruppe unserer Vereinigung beobachtet die Situation seit Anfang August 2016, teilweise seit Mitte Juli, und diese Auflistung basiert auf ihren noch nicht insgesamt publizierten Workshop-Berichten über eigene oder externe Akten, sowie auf den mit verschiedenen Betroffenen geführten Interviews. Im Rahmen eines Projekts werden ferner 150 AnwältInnen über ihre eigene Erfahrungen und Akten sowie Prozesse im Laufe des kommenden Jahres berichten können. Einzelheiten dieses Projekts können erfragt werden unter oykudidemaydin@ gmail.com

[15] Dazu theoretisch: Eser/Arnold/Kreicker, Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, Ein Projektbericht, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, in: https://www.mpicc/de/shared/data/pdf/fa-systemunrecht-int.pdf

[16] Regnard, C. (November, 2016), »Turkey: The End of the Rule of Law«, Vol. V, Issue 11, pp.16 – 22, Centre for Policy and Research on Turkey (ResearchTurkey), London, Research Turkey. (http://researchturkey.org/?p=13021) = http:// researchturkey.org/turkey-the-end-of-the-ruleof-law/http://www.iaj-uim.org/iuw/wp-content/ uploads/2016/11/Answer-to-YPD-presidentnov-2016.pdf

[17] Der Verteidiger hat normalerweise auch im Ermittlungsverfahren Akteneinsicht. Die kann vor Abschluss der Ermittlungen nur versagt werden, wenn der Untersuchungszweck gefährdet wäre. In Haftsachen sind die für die Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen zugänglich zu machen.

[18] Siehe Draft Opinion der Venedig-Kommission No. 865/2016 Strasbourg 25.11.2016 CDL (2016)039.

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